Zur Physiognomik des Apfelweins
In seinem 1859 erschienenen Buch ‚Berliner Silhouetten‘ äußert sich der deutsche Journalist und Schriftsteller Ernst Kossak (1814 – 1880) „Zur Physiognomik des Apfelweins“. Kossak gilt als Erfinder des Berliner Feuilletons im 19. Jahrhundert.
Natürlich findet auch der als ‚Apfelweindoktor‘ bekannte „freie Heilkünstler Petsch“ in seinem Artikel überschwenglich lobende Erwähnung.
Manch andere Passagen, ganz im Zeitgeist des 19. Jahrhunderts, mögen uns heute eher erheitern. Zum Beispiel diese hier: „Der verwerfliche Zustand des Rausches kann niemals durch den Apfelwein hervorgebracht werden…“
Das folgende Transkritp verwendet die zeitgenössische Rechtschreibung des Originals.
Zur Physiognomik des Apfelweins.
Unter den großen Doctoren der „wilden Medicin“, neben den Wohlthätern der leidenden Menschheit, einem Goldberger, Bullrich, Kunzemann u . A., wird mit einer ganz besonderen Hochachtung der Importeur des Apfelweins, der berühmte freie Heilkünstler Petsch genannt. Wie fast alle Schöpfer und Begründer neuer und erhabener Ideen sehen wir diesen Mann von Zeit zu Zeit vor den weltlichen Gerichten erscheinen , angeklagt einer Usurpation des rechtmäßigen Gebietes der Heilwissenschaft, und als Märtyrer seiner tiefsten Ueberzeugung einige Thaler Strafe, nebst den dazu gehörigen Kosten an die Stadtgerichts- und Salarienkasse erlegen.
Mit ihm treten gläubige Jünger als Zeugen auf, Lahme, die er von Knochenschäden geheilt, Unterleibskranke, deren Verdauung er wieder hergestellt, und scrophulöse1) Kinder, welche er von angeschwollenen Mandeln und dicken Kartoffelbäuchen befreit hat. Der Wundarzt hält eine begeisterte Prophetenansprache, die Zeugen vergießen Thränen der Freude und Dankbarkeit, und der Richter, nachdem er das arme Opfer der bestehenden Gesetze, seiner Pflicht getreu, verdonnert hat, beschließt sofort noch am Abend desselben Tages Apfelwein zu versuchen, und wird vielleicht einer der eifrigsten Apostel des verurtheilten großen Mannes.
Die ärztliche Wirksamkeit des berühmten Petsch hat sich in Folge dieser, eigentlich auf seine Unterdrückung als „Mann der Wissenschaft“ angelegten, in der That aber gleich der wohlberechnetsten Reclame wirkenden Ereignisse so gesteigert, daß bereits eine große stille Gemeinde von Petschianern existirt, welche sich einem regelmäßigen eifrigen Cultus des Apfelweins gewidmet hat. Ja so zahlreich ist diese eigenthümlich priesterlich – medicinische Secte , daß sie sich nicht mehr im Locale des ersten Importeurs von Apfelwein allein, sondern an verschiedenen Stellen in der Stadt verssammelt, und bereits zahlreiche Schismatiker2) vorhanden sind, welche dem Apfelwein des Meisters den Vorwurf einiger Säure machen und den seiner späteren Nachahmer vorziehen. Ja selbst in dem benachbarten Schöneberg hat sich ein solcher Rival angesiedelt und versorgt die Schaar seiner Anhänger mit mildem gegohrenem Apfelsaft . Wie vermag da ein heitrer Beobachter der Berliner Sitten und Anschauungen länger zu widerstehen, und so machten wir uns an einigen der letzen schönen Novembernachmittage auf den Weg und besuchten mehrere dieser Mittelpunkte des Apfelweincultus .
Zunächst regt es einen beschaulichen Geist zu tiefem Nachdenken an, wenn er bemerkt, daß die Locale, in welchen der Apfelwein ausgeschenkt wird, durch den weise gewählten Titel „Apfelweinhandlung“ sich einen engrosmäßigen Anstrich geben und ihren Charakter einer „Apfelweinstube“ nur als höchst unwesentlich, und aus einer liebevollen Zuvorkommenheit des Wirthes hervor gehend betrachtet wissen wollen.
Mit dieser feierlichen und sittlichen Anzeige über der gastlichen Pforte des Hauses paart sich eine an den Fenstern der Locale ausgestellte, auf gebildete Zungen berechnete Lockung. Die mit deutlichen gothischen Buchstaben auf weiße Täfelchen zierlich geschriebenen Worte „Glühwein“ und „Ananascardinal“ verbergen eine bedeutsame Tendenz. Die Apfelweinhandlung, als eine Art medicinisch – religiösen Institutes, wendet sich mit ihnen lakonisch an jene eitlen Weltkinder, welche bald einer gewaltsamen inneren Erhitzung durch feurige Getränke, bald einer sanfteren, aber einmeichelnden Anregung durch süße duftende Flüssigkeiten bedürfen, und verkündet ihnen, daß auch dem Apfelwein die Erzeugung so poetischer Säfte nicht unmöglich sei, daß dieselben aber an diesem Orte, durch die geheimnißvolle Bedeutung des Getränkes, eine höhere Weihe in sich schlössen.
Die Apfelweinhandlung liegt gewöhnlich nicht in einer lebhaften Straße, aber stets in einer gebildeten Gegend. „Treten wir in das Local, das mit einem gewissen Stolze der Simplicität allen anziehenden Schmuck vermeidet, zuweilen selbst die in den Abendstunden so nothwendige Gasflamme auf dem Flur, als überflüssig für seine alten Getreuen verachtet, so berührt uns die friedliche Stille des Ortes und der anwesenden Apfelbacchanten3) äußerst angenehm. „Man kann dabei nicht fröhlich sein!“ Dieses treffende Wort, welches ein lyrischer Kenner über die Elbe- , Saale- , Havel- , Ober- und Weichselweine ausgesprochen hat, trifft auch ihren jüngeren Vetter: den Äpfelwein. Er verbrüdert sich gleich jenen melancholischen Tunken nicht mit dem menschlichen Intellekt, er durchleuchtet ihn nicht mit rosigem Schimmer, er wendet sich nur an das Erdgeschoß der Sterblichkeit und rumort in den untern Gewölben. Nur als ein Echo dieser Bewegungen werden oben im Geiste hie und da die Wirkungen des Apfelweins vernehmbar.
Man spricht in den Zimmern einer Apfelweinhandlung nicht laut und herrisch, aufgeregt und dithyrambisch4), wie in einer Weinstube oder in einem altdeutschen Keller; die Unterhaltung wird nur mit halber Stimme und mit einiger Zurückhaltung geführt. Der Apfelwein ist ja nur zur Hälfte ein den Durst löschendes und nur fraglicher Weise den Gaumen und die Zunge erfreuendes Getränk; er ist vielmehr eine von der Göttin Pomona geschenkte starke Arzenei. Daher die friedliche, fast inbrünstige Haltung der Templeisen5) am Gral des unsterblichen Priesterkönigs Petsch. An den mit Wachstuch sauber bezogenen Tischen sitzen sie vor Schoppenflaschen mit weißen, großen Gläsern, lesen die Zeit und die Gartenlaube, oder ergehen sich in Debatten über die neuesten, durch ihr Lieblingegetränk erzielten Wunderkuren.
Von der berüchtigten brandigen Pontaksnase mit ihren sieben Jungen an, wie sie ein berühmter, jetzt verstorbener deutscher Componist, mit dem wir einst einen unvergeblichen siebenstündigen Trunk gethan, durch lange Uebung erzielt hatte, bis auf die liebliche Inflammation der Wangen, wie sie sich über das jungfräuliche Antlitz eines schüchtern anfangenden, jungen Weintrinkers verbreitet, ist Roth in dem Farbenspectrum der Apfelweinfreunde vollkommen unbekannt. Auf allen Gesichtern, sogar auf dem des ruhigen, zurüchaltenden Wirthes, waltet eine anziehende, bureaukratische Blässe vor; die Farbe des Nachdenkens und des täglichen Kampfes mit dem Watercloset. Was sollte auch hier eine etwaige Aufregung bezwecken.
An diesem Tische wird die merkwürdige Geschichte von dem asthmatischen Manne erzählt, der an dem schändlichsten Pips der Stimme leidend und aus dem letzten Loche seiner Daseinsflöte pfeifend, nach elftägigem Genuß von Apfelwein die erste Arie des Figaro aus Rossini’s Barbier sang, fünf Portionen Erbsen und Sauerkohl aß, hin und zurück nach Kohlhasenbrück ging, und am Abend dieses Tages, blos der Leibesbewegung halber, noch Hand an einem Nachtwächter, wie Andere behaupten wollten, sogar an einen Nachtwachtmeister legte. In jener Ecke berichtet ein pensionirter Kanzleirath die Begebenheit von seinem Freunde, der sich durch emsiges Trinken nicht allein den schwarzen Staar, sondern auch die Hühneraugen vertrieben habe, und endlich dicht neben ihm erzählt ein ehemaliger Candidat der galoppirenden Schwindsucht seine gänzliche Wiederherstellung durch ein Gemisch von Apfelwein und Milch .
Auf freche Gewinnsucht basirte Spiele finden nicht statt; die angemessenste Unterhaltung für Apfelweintrinker ist Schach. Das nicht den geringsten Reiz auf das Nervensystem ausübende Getränk eignet sich vortrefflich zu einer Anfeuchtung der Kehle bei dem beschaulichsten, den Geist am sichersten von allen irdischen Dingen ableitenden Spiele der Menschen. Zuweilen zieht aber auch allein die in den Apfelweinhandlungen herrschende Klosterstille berühmte Schachspieler in diese Locale, und die gewöhnlichen „Holzschieber“ unterbrechen dann ihre stümperhaften Partieen und zerbrechen sich, das Paar im Stehen umgebend, die Köpfe über die ihnen vollkommen unverständlichen Combinationen der Meister. Der Wirth schleicht aber auf den Zehen, im Rücken der Stellung umher, und füllt, nach leise und wispernd ertheilten Aufträgen, die geleerten Schoppen wieder aus der riesigen braunen Steingutkruke6), in welcher sich der Pseudowein so frisch, wie in dem tiefsten Keller hält.
Die Empfindlichkeit der Trinker gegen jedes Geräusch ist sehr merkwürdig. Jeder ungebührliche Laut erschreckt und veranlaßt sie sich so krampfhaft hastig umzudrehen, wie ein Hund, hinter dem ein Mann mit einem eisenbeschlagenen Stocke vorüber stampft. Diese gehören alle zu den schweren Patienten des Apfelweines; nicht so krankhaft reizbar sind die den Apfelwein nur aus Sparsamkeit trinkenden reichen Geizhälse. Die ausnehmende Billigkeit dieses heilkräftigen Nektars läßt nämlich zu, daß selbst einzelne ältere Herren von 80,000 Thalern Vermögen sich allabendlich den Genuß eines Schoppens verschaffen, und von sich sagen können, sie gingen „zu Wein“. Außerdem gibt es eine geringe Anzahl wirklicher Kneipbrüder in Apfelwein. Sie sind immer Männer von einer gewissen philosophischen Anlage, einem Hange zur prüfenden Meditation, denkende Köpfe, die früher regelmäßig zwischen neun und zwölf Uhr drei Schoppen Margeaur getrunken haben, aber in der besseren Einsicht von der Hinfälligkeit der menschlichen Natur, der Schwäche der modernen Weinhändler, der Unpreiswürdigkeit der Rothweine, und der Beharrlichkeit der Hämorrhoiden zu dem blutverdünnenden Apfelsaft übergegangen sind. Dieser wichtige Wendepunkt in der Geschichtsentwiclung ihres Durstes verleiht ihnen einen eigenthümlichen ernsten Anstrich; man kann sie die büßenden Mönche der Flasche nennen. Die früheren kecken Witze haben sie längst aufgegeben, ihr Gespräch dreht sich gern um schwierige Rechtshändel und schlechte Course. Der Apfelwein ist das geeignetste Getränk bei erbärmlichem Stande der Papiere und Bankcalamitäten7) .
Es liegt nicht in der Natur des Apfelweins, daß er zu gastronomischen Schwelgereien anreizt; er paßt nur zu schlichter Hausmannskost. Mit frischen Kartoffeln und neuem Häring geht er häufig eine beliebte Verbindung ein. Junggesellen von reifem Alter und vollkommener Resignation auf die Freuden eines eigenen Haushaltes pflegen sich regelmäßig zu dem genannten Abendessen einzufinden. Bei Tage wird der Apfelwein häufig mit Salzprätzeln zusammen genossen. Auch bildet diese Zusammenstellung die letzte tägliche Mahlzeit jener Asceten, denen von dem Hippokrates der ,,wilden Medicin“ das Abendessen verboten ist.
Der verwerfliche Zustand des Rausches kann niemals durch den Apfelwein hervorgebracht werden, dennoch vermag er den sogenannten ,,Katzenjammer“ in einem so fürchterlichen Grade hervorzubringen, daß die schrecklichsten autobiographischen Mittheilungen erfahrener Studenten über die Wirkungen unlauteren Bieres und schlechten Punsches dagegen in den Hintergrund treten. Im Allgemeinen verlängert er aber mäßig genossen das menschliche Leben und Angesicht.
In Flaschen aufbewahrt, besitzt er dagegen die interessante Eigenthümlichkeit, nach einiger Zeit seltsame, aus einfacher Vegetation bestehende Wolkenformationen zu bilben, und er taugt in diesem Zustande nur noch zur Verdünnung der Wichse. Ganz besonders eignet er sich zur Anfertigung von feinen eleganten Champagnern, und wird in dieser Gestalt auch von Personen genossen, die ihn sonst nicht einmal dem Namen nach kennen, und mit äußerster Verachtung gegen ihn erfüllt sind.
1) Skrofulose: Schwellung der Halsdrüsen / Hauttuberkulose
2) Schismatiker: Person, die die Kirche spaltet
3) Bacchant: Trinkbruder
4) dithyrambisch: überschwenglich, begeisternd (17. Jh.)
5) Templeisen: Gralshüter, Ritter des Grals
6) Steingutkruke: irdenes Gefäß für Flüssigkeiten
7) Calamität: schwierige, missliche Lage